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Frankfurter Allee
Der volumenschwangere Platzhalter für eine klaustrophobische Leere
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Berlin. Café Tasso als zentralperspektivische Warte auf der Frankfurter Allee. Die straffgezogenen Fluchtlinien sind kunstvolle architektonische Gefängnisgitter, die den Blick gekonnt zu einer sanften Unfreiheit verführen. In Wirklichkeit ist der Betrachter im Käfig einer größenwahnsinnigen Chimäre gefangen, die weder Straße noch Schlucht ist.
Die Luft ist mit weißem Staub gepudert, der mächtige, fachmännisch begradigte Windfluss scheint mit dem Licht zu spielen, indem er die Schatten von der Straße immer wieder fortbläst. Die Schattenseiten der Häuser dagegen sind auf der weiträumigen Allee die einzig verlässlichen Volumenträger. Wenn sie in der Sonne liegen, wirken die üppigen Kachelfassaden der sozialistischen Paläste mit ihrem schönen, melancholischen Glanz viel zu unwirklich, um als Tragfläche dienen zu können. Nichtsdestotrotz strebt alles dahin, sich plastisch zu verwirklichen. Platzergreifend türmt sich alles ins Unermessliche; die wahnwitzige Stadt scheint hier, um jeden Preis größer, ja zwanghaft mächtiger sein zu müssen. Diese Raumbesessenheit wird von Gärungen eines abgestorbenen Wahnsinns getrieben, der von hier aus Jahrzehnte lang in alle Welt ausstrahlte und jetzt dazu verurteilt ist, als morbide touristische Attraktion unserer konsumistischen Belanglosigkeit die Stirn zu bieten. Selbst die leeren Zwischenräume sind grotesk verkrustete Volumenahnungen, die wie schwere Platzhalter für eine wandlose Klaustrophobie auf einen labilen Beobachter lauern. … Melancholie und Paranoia als kindsköpfige Baumeister einer mörderischen Selbstvergessenheit. … Man staunt, solange das Lächerliche noch eine gewisse Komik zu bieten hat.
Und trotzdem …,
trotz alledem breitet sich im Herz des Künstlers ein namenloses Mitleid aus: Es ist eine verborgene, in blinder Wut eingemauerte, blind gewordene jungfräuliche Schönheit, die uns von den Turmspitzen des gekachelten Raumkäfigs aus ihre traurigen Abschiedsgrüße sendet.
Aber Vorsicht!
Wir, die im Käfig des Sozialismus aufgewachsen sind, müssen hier achtgeben und gut aufpassen, um die Erinnerung an die Hoffnung der Jugend nicht restlos mit der hoffnungslosen Schönheit dieser blankpolierten Ruinen zu verwechseln. Denn allein ihre bodenlose Vergeblichkeit verleiht dieser Architektur die Würde einer verstümmelten Schönheit! Sie ist lediglich dazu da, um sich immerwährend von uns zu verabschieden.
Der letzte Blick gilt den Bäumen, deren schimmernde Laubwerke einen lautlosen Sklaventanz im summenden, stark befahrenen Windkanal vorführen.
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Der Raum aus bizarren Volumenahnungen, die den Wahrnehmungsapparat eines labilen Beobachters mit einer paranoiden Melancholie und einer klaustrophobischen Leere zu überfluten drohen. Das Herz wird zum ungewollten Platzhalter für die verkrustete Geometrie eines fachmännisch begradigten Formflusses, der das Auge zum Mündungskanal einer beklemmenden Angstneurose macht.
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Dann ist es so weit – ohne Vorwarnung wird der Betrachter plötzlich aus dem architektonischen Käfig entlassen. Allmählich, mit dem bedrückenden Gefühl einer aufgedrängten Freiheit, verlässt er die einäugige Geometrie der Straße und fängt an, sich eine andere Beschäftigung zu suchen. Einem labilen Beobachter allerdings, der hier meistens in Gestalt eines touristischen Stadtbesuchers auftritt, kann dies zum Verhängnis werden. Er hat hier nicht nur nichts mehr zu tun, er wird von einem breit gähnenden Nichts, das sich in ihm auftut und das eine bezugslose Nervosität herbeiführt, heimgesucht! – die Faszination weicht nun endgültig dem Unbehagen und legt dabei die Wunde einer anonymen Unsicherheit frei. Nach einer Weile ist er gezwungen, sich in das pittoreske Gassenlabyrinth des Friedrichshains zu retten, wo reihenweise kleine, gemütliche Cafés und sonderbare Kneipen auf ihn warten.
Der Sprachspieler dagegen hat es leicht. Er hat eine solide zeichnerische Beobachtungstechnik und widmet sich einfach den Baumkronen und Passanten. Eine dringliche, fingerkitzelnde Lust lässt ihn Dutzende Einzelblätter mit Porträts füllen: Radfahrer und auf die U-Bahn eilende Fahrgäste, die, sooft sie den Fuß auf die Straße setzen, sie schnellstmöglich zu verlassen trachten (die Einheimischen wissen allzu gut, dass dieser Ort eine nicht bewohnbare, tote Stadtprothese ist). Die einzige Gelegenheit, diese Menschen zu porträtieren, bietet sich, wenn sie am Straßenrand auf das Grün der Ampel warten.
Aber die aufgedrängte Freiheit ist zu billig, man kann sie unmöglich ohne Widerstand annehmen – der stolze Künstler will sich selbst befreien! Die größenwahnsinnige Chimäre, die zu dieser Stunde im nachmittäglichen Sonnengold badet, bietet reichlich Gelegenheit dazu. Die drahtigen, kopflosen Hälse der Straße ziehen mit ihrer gewaltigen Strichgrafik den Blick erneut auf sich, sodass der kampflustige Zeichner weiter staunen und weiter das schon hundertmal Wahrgenommene protokollieren muss. Ein manischer Durst nach Beobachtung muss sich des entflogenen Käfigs noch einmal vergewissern; noch einmal muss erlebt werden, wie sich die monströsen Glieder der Stadt in westlicher Richtung in das burleske Beiwerk einer großstädtischen Raummegalomanie verdichten und den Gipfel ihrer Albernheit im Stecknadelkoloss des Fernsehturms erreichen. Noch einmal muss man Zeuge sein, wie sich in der um einhundertachtzig Grad gewendeten Perspektive das Netzwerk der sich versteifenden Raumsehnen in einem verwaschenen Fluchtpunkt irgendwo unter dem flachen Himmel der Vororte zuspitzt … und den Betrachter schließlich zum Gähnen einlädt. Und spätestens hier muss er auflachen:
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Die protzige Tyrannei der Großformen hat keinen Bestand, sie wird immer nur von kurzer Dauer bleiben – zu dümmlich sind ihre kindsköpfigen Machtansprüche, zu belanglos ihre morbiden Lebensversprechungen. Man staunt, solange das Lächerliche noch eine gewisse Komik aufrechterhalten kann.
Dann darf der Zeichner wieder Kunst machen. Er widmet sich den säulenartigen Wolkenformen, die sich, wie eine Komödiantentruppe weiß gepuderter Bleiriesen, über die glänzende Keramik der glühenden Legostein-Fassaden lustig machen.
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Beauty and the Beast
Plastikkörbe und Kartons, Berge und Stapel; papierene Architekturmegalomanie der großstädtischen Müßiggänger. Im Café Tasso, das gleichzeitig ein Antiquariat ist, wird vor allem mit Klassikern gehandelt; Romane, Erzählungen, Künstlermonografien, Bücher über Musik, Geschichte, Politik und Wissenschaft. Stückpreis 1 Euro. Im westlichen Flügel der Papierfestung, wo Bücher über Medizin, Sport, gesunde Ernährung und richtigen Lebenswandel stehen, ist es dagegen einsam. Denn in diesem Lokal werden hauptsächlich Zigaretten und Kaffee konsumiert. Die Gäste sind zwei langbärtige Studenten und eine Sammlung betagter, rotbackiger Müßiggänger. … Ruinöse Schädel, gelbe Augäpfel, schiefe Zähne, im Mundwinkel eine leonardihaft lächelnde Schattenwolke. Dann taucht ein Literatenpärchen auf. Die Frau ist jung, der Mann über sechzig. Die Hand der Frau wandert mit einem Bleistift über ein Manuskript und kritzelt nervös Grafiken auf die Textränder. Ein Theaterstück? Die Frau erzählt, der Mann raucht ein Zigarillo und nickt. Immer wieder blicken sich die Leute unwillkürlich um und suchen die Quelle des süßlichen Zigarillogeschmacks. Ihre Gedanken sind gut lesbar: the Beauty and the Beast.
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Ein taubenweiches Doppelkinn unter den scharlachroten Lippen, stark behaarte, mit Krampfadern übersäte Backen. Unter dem grauen Gestrüpp der Augenbrauen mit Falten umkränzte Müdigkeit und ein funkelnder Porzellanglanz aus einer türkisgepuderten Hauttasche im Schatten des zarten Tränenbeins.
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Am Brunnen beschnüffeln sich Hunde, während die Hundebesitzer stumm danebenstehen und rauchen. Auf der Wiese vor dem Lokal trägt ein hochgewachsener, magerer Mann sein Kind im Babytuch, in der Hand eine zerlesene Zeitung. Ein hölzernes Spielzeug baumelt an der Schnur. … Drei Schritte weiter, in der prallen Sonne, schnarcht auf der Sitzbank ein Junge, den man nach einem nächtlichen Saufgelage hier zum Ausnüchtern abgelegt hat. In Reichweite stehen leere Bierflaschen, die das gefärbte Sonnenlicht mit stechender Brechkraft über das graue Pflaster gießen. Ein Wunder, dass sie noch nicht von den flaschensammelnden Rentnern entdeckt worden sind.
Wie verabredet verabschieden sich die Hundebesitzer und ziehen mit ihren hüpfenden, für die lustige Linienakrobatik wie geschaffenen Hunden los. Der zeichnerische Höhepunkt sollte aber erst noch kommen: Auch das Literatenpärchen steht auf und verkleinert sich langsam, zusammen mit Häusern, Bäumen und Straßenlampen entlang der strengen, zentralperspektivischen Fluchtlinie des raumschluckenden Straßenkolosses – bis dem Zeichner nichts anderes übrig bleibt, als anstelle ihrer Körper zwei Punkte zu setzen:
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Plastikkörbe, Kartons, Berge und Stapel. Eine Literaturbrüstung und die nervösen Luftgrafiken des Zigarillorauchs. Babys und Hunde; literarische Monster und theatralische Schönheiten; die musischen Chimären der papierenen Architektur. Die Stadt als komödiantisches Beiwerk einer bleiernen Raummegalomanie. Und als Belustigung für die breit gähnenden Puderriesen um den glänzenden Stecknadelkoloss der architektonischen Albernheit.
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Schlagwörter: architektur, Artistik, Barbarei, Berlin, Frankfurter Alle, Großstadt, KUNST, Lesen, Literarische Beobachtungen, Literatur, Tasso