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Die Kindersoldaten der Kunst

9 Mär

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Das Volumen des Wartens


»Was sie wirklich brauchen, was sie nicht mehr entbehren können, ist die wieder und wieder erneuerte Lust am Überleben.«

Elias Canetti

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Wie eine schwarze Lokomotive, mit der dunklen Kraft afrikanischer Steinkohle angetrieben, schlägt sich eine Frau durch die Menge. Eigentlich noch ein Kind, großgewachsen, stark übergewichtig. Unter schweren Augenbrauen der strenge Blick der Pubertätskriegerin. Tiefe Stirnfalten und eine drahtig buschige Mähne. Die Hände: mächtige Zylinder; die Schultern: tragende Plattformen. Aber die Fingernägel sind silbern, rot und golden lackiert und glänzen in der tiefstehenden Sonne wie Edelsteine. Dann ein kurzer Seitenblick – und weg ist sie! Auf der Rye Lane ist alles unvorhersehbar, richtungslos und unschlüssig – in das Unabsehbare hineingezerrte Vorläufigkeit des städtischen Nomadenlebens.

Rye Lane ist die Oxford Street Peckhams. Über ihre ganze Länge hinweg reihen sich kleine Geschäfte: afro-karibische Läden, Gemüsestände, Kioske, Discounter, Metzgereien, Obstbuden, Textilgeschäfte, Callshops, Waschsalons, Alles-für-1-Pfund-Läden, Bäckereien, Friseurläden, Kosmetiksalons … Die Letzteren sind klar in der Überzahl, es gibt sie dutzendweise, Beauty Stores und Beauty-, Nail-, Hairdressing- und Modern Hairstyle Salons. In diesen Schönheitsspelunken treffen sich die Nachbarn, Schwestern, Freundinnen, Töchter und Enkeltöchter, um unter dem Vorwand der Körperpflege die Zeit des eingefleischten Wartens totzuschlagen. Denn auf der Rye Lane ist das Warten die beherrschende Technik des Lebens. Gewartet wird überall: im Gehen, auf der Sitzbank, im Bus, vor dem Laden, im Laden, im Auto, auf dem Fahrrad, am Fenster, vor dem Haus, mit Handy am Ohr, kauend, rauchend, spuckend, mit dem Kind auf dem Arm, im Kinderwagen, auf dem Schoß, an der Hand.

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Das Warten ist die praktische Alltagskunst der heimisch gewordenen Nomaden; eine bewährte Lebenstechnik und der eingefleischte Soft Skill eines trotzigen Aufgebens. Die Zeit auf der Rye Lane ist ein mürbes Volumen des Wartens. In der tiefstehenden Sonne leuchten die Schaufenster der Kosmetiksalons wie verlorene Edelsteine.

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Und was soll man hier anderes tun als mit dem durstigen Blick in den schläfrigen Fluss der Straße einzutauchen, in das verträumte Volumen der müde schlummernden Zeit? Dabei drängt sich wie von selbst die handfeste bildhauerische Beobachtungstechnik auf. Jede Fläche, jede Linie, jedes Relief und jede »Plastik« aktiviert die Haptik der Hand und treibt die elektrische Energie in die Fingerspitzen. Das Auge wird zum Werkzeug der Hand, die – handlungsdurstig – mal das Kinn kratzt, mal mit dem Kleingeld in der Hosentasche spielt.

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Die malzige Plastik des Passantenstroms. Die Gesichter sind Reliefe des Wartens; die Körper Plastiken des Hinauszögerns. Der Bildhauer kreist mit seinem haptischen Blick um die schwarze Knetmasse des Wartens: um den glatten Backenknochen, über die vollen Wangen und über die glänzende Stirn. Seine Fingeraugen schneiden in die dunklen Plastilinberge breit aufgequollene Lippen ein, bohren mächtige Nasenlöcher und spielen im Grübchen der Nasenwurzel.

Dürfte er nur seine Hände an diese Backen legen, den Scheitel berühren, den Hinterkopf unter dem schwarzen Draht fassen!

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Der Doppelagent der Herkunft

Es hat sich also nichts verändert; wochen- und monatelang glüht in London immer wieder die gleiche, tief im Innern des Sprachspielers schwelende Leidenschaft auf. Von der schwarzen Fremdheit kann er nie genug haben! Wie die Türken, Afghanen und Araber in Berlin starrt er auch diese Menschen mit heimlicher Hungrigkeit stundenlang an, läuft schamlos durch ihre Straßen, bespitzelt sie, zeichnet und »modelliert« mit Bildhaueraugen ihre Köpfe nach. … Weil sie die echten, unverfälschten Fremden sind? Und nicht wie er, der er immer nur ein lausiger Müßiggänger des Fremdseins geblieben ist; ein eingefleischter Spieler und Trickser des Heimischseins, ein Doppelagent der Herkunft im dicken, identitätsabweisenden Brustpanzer.

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Türken, Inder, Afghanen, Araber, Jamaikaner, Afrikaner … Darunter: der lausige Doppelagent der Herkunft … Eine leere Sitzbank, die Bildhaueraugen und die unschlüssige Hand des Zeichners unter dem lähmenden Eindruck einer abgrundtiefen Vorläufigkeit.

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Die Negativformen des Lebens

Den Eindruck einer allgemeinen Vorläufigkeit verstärkt die staubige Unverbindlichkeit der verbrauchten Architektur. Worauf warten all diese lächerlichen Miniaturen aus niedlichem Ziegelstein? Dass man sie renoviert, hier in Peckham? Von wegen, könnte man meinen. Aber nur 300 Meter entfernt stehen schon die ersten Porsche vor frisch verputzten Häusern. Auf der Rye Lane dagegen sind die Ziegelsteinbehausungen – diese vergessenen Legosteine, dieser viktorianische Witz – nach wie vor schmuddelige Schlupflöcher. Man bewohnt sie, wie Landstreicher bei Unwetter verlassene Hütten bewohnen: ohne Bezug, ohne Neugierde, gleichgültig gegenüber allem, was nicht zum unmittelbaren Zufluchtszweck dient … Im flüchtig besetzten Raum des Wartens zählt nur das Praktische.

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Peckham Rye ist ein Sammelbecken für die artistischen Meister der Vorläufigkeit, die, gestrandet auf dem Trockenboden europäischer Ruinen, eine anständige Wohnung mit der voluminösen Plastik des Wartens kompensieren.

Die schwarzen Körpermassive verdrängen den Raum um sich herum in die engen, zerbrechlichen Luftspalten und bilden auf dem Bürgersteig konkave Klüfte aus dichtem Lichtharz. Auf diese Weise entsteht das poröse Plastilin des Wartens. Die Bildhauer könnten sie nachbilden und eine Stadt aus den Negativformen des Lebens bauen.

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Die mürben Zwischenräume des Wartens

Fast alle Stockwerke über den Läden sind leer. Zerbrochene Fenster, staubige Gardinenreste, mürbes Holz. Häuser in der schönen Selbstständigkeit eines stillen Zerfalls. In der Nähe der Bahnstation wehen Geruchsfahnen von rohem Fleisch, Hunderte Hähnchenschenkel bilden meterhohe Fleischpyramiden. Als Schmuck hängen federlose Hühnerleiber mit rotbekrönten Köpfen um die Theke. Die roten Hahnenkämme sehen auf den ersten Blick aus wie Rosenblätter und verleihen der Metzgerei das Aussehen eines Voodoo-Tempels. Und hier sieht man auch, womöglich erst wegen der Hühnerhaut gleichenden Hautfarbe herbeibemerkt, die ersten Weißen. Nein, es stimmt nicht, nicht die Hautfarbe ist entscheidend, es ist etwas anderes, was sie verrät: Ihre Körperformen – allesamt junge Menschen, beinahe Kinder! – passen nicht in die konkaven Plastilinspalten, nicht in die weiten mürben Zwischenräume des Wartens! Die Fremdlinge verraten sich durch die tollpatschigen Bewegungen ahnungsloser Eindringlinge und – der Bildhauer muss sich hier an den Kopf fassen – lassen die durch die harzigen Luftkrusten des Wartens soeben eingepressten Formen der negativen Stadt durchbrochen hinter sich: Ihre Schritte mischen sich in die möbiusschleifene Choreografie des Herumtreibens, in die gläserne Ornamentik einer opaken Spiegelvariante des Zenonschen Wettlaufs mit der Zeit, und verursachen unwissentlich peinliche Kratzwunden im gläsernen Volumen des Wartens. Und es besteht kein Zweifel: Die hühnerhautfarbenen Eindringliche sind Künstler!

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Und so begrüßen sich die Künstlerkollegen, die ungerufenen Zeugen des schwarzen Elends. Wie bunte Fraktalarme der Kunst verbreiten sich in Peckham ihre Spuren: großformatige fotokopierte Plakate mit Porträts von Nachbarn, Ausstellungsflyer, Graffiti, Spruchkunst …

Gläserne Ornamentik, opake Spiegelschritte einer Zenonschen Ornamentik des Herumtreibens.

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Und tatsächlich – in unmittelbarer Nähe der Rye Lane zählt man hinter den wenigen geputzten Fenstern von verlassenen Häusern drei Off-Galerien und etliche Ateliers. Auf dem Dach des Multi-Storey Car Parks, in der Frank`s Cafe & Campari Bar, die als »the coolest space in London« gepriesen wird, sammeln sich die Angehörigen der lokalen creative & business community. Unweit befindet sich auch das Bussey Building mit Ateliers und Werkstätten. Nach den Plänen der Peckham Vision soll um die Rye Lane ein Copeland Cultural Quarter entstehen, ein Business-, Kultur- und Shopping-Komplex. »Und vieles mehr«!

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Also:

Adieu, Straßen der schwarzen Plastik,

ade, negative Stadt

und tschüss, Voodoo-Tempel aus Fleischpyramiden;

Lebewohl, ihr Bildhauer der konkaven Formen!

Bis bald, ihr bunten Fraktalarme der Kunst!

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Kindersoldaten der Kunst

Sympathisch, beschäftigt und zugleich wunderbar musisch … Jugend! So spiellustig in ihrer Sorge um die Welt. … Auch der hiesige junge Künstler scheut den Glanz der Kunsttempel, in denen er zum Künstler erzogen wurde und in denen er, wenn er lange genug dabei bliebe, enden würde. Denn hier ist das Abenteuer, hier genießt auch das blasseste Talent das grelle Kontrastlicht der Flüchtlingskommune.

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Mao Cap, Che Guevara-Shirt, zusammengepresste Fäuste, Hammer und Sichel, Dreadlocks. Unter dem umgeworfenen Mantel des Engagements schlägt das angeschwollene Kinderherz des großstädtischen LifestyleKosmos; lustiger Protest gegen Elend und Ungerechtigkeit mit schimmernden Funken in den stolzen Augen. Und die trübe Fantasie von einer Welt, die aus einem mit der fossilen Energie toter Ideologien angeheizten »Ich« und einem durch eine angeborene Selbstverliebtheit zersetzten »Wir« entstehen soll.

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Der Kiezbewohner jedoch, porträtiert auf einem Plakat und videointerviewt in einem Videokunstwerk, bleibt ein Loser, selbst wenn die künstlerische Arbeit in der Zeitung gelobt wurde. Aber warum irritiert das, warum kann man die lustigen Kindersoldaten der Kunst nicht in Ruhe ihre Adoleszenz ausleben lassen? Weil ihre low-class-Altersgenossen aus der Nachbarschaft – ebenso ihre Adoleszenz auslebend – neulich die Häuser in Brand gesetzt haben …?

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Der Künstler, der immer nur ein lausiger Müßiggänger bleiben wird; der eingefleischte Doppelagent des politischen Engagements, der Spieler und Trickser des Heimischseins.

Der lustige Flüchtling mit dem dicken, identitätsabweisenden Brustpanzer um die Gussform der Sehnsucht.

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